Auszug aus der Rede Papst Johannes Paul II., gehalten am 9. November 1982 in Santiago de Compostela, lange vor dem Pilgerboom, zu und über Europa. Diese Rede hat auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
“Ich sehe von Santiago de Compostela aus den europäischen Kontinent vor mir, das ausgedehnte
Straßennetz, das die Städte und Nationen miteinander verbindet, und jene Wege, die schon im
Mittelalter hierhin führten und immer noch unzählige Scharen von Pilgern zur Verehrung des
Apostels lenken. Seit dem elften und zwölften Jahrhundert pilgerten die Gläubigen aus allen Teilen
Europas über den berühmten Jakobsweg zum Grab des Jakobus bis zur Finis terrae: dem Ende der
Erde, wie die Menschen damals diese Landschaft noch sahen.
Hierher kam Christen aus allen sozialen Schichten, vom König bis zum ärmsten Dorfbewohner (…)
mit unterschiedlichem geistigen Niveau. Es kamen Heilige – wie Franz von Assisi und Brigitte von
Schweden – bis hin zu vielen offen um Vergebung suchenden Sündern. (…) Schon Goethe hat
festgestellt, dass das Bewusstsein Europas aus den Wallfahrten gewachsen ist. (…)
Die Pilgerfahrt nach Santiago war eines der wichtigsten Elemente zur Förderung des gegenseitigen
Verständnisses so unterschiedlicher Völker wie der Lateiner, Germanen, Kelten, Angelsachsen und
Slawen. (…) Sie brachte die Menschen einander näher, verband und einigte sie. Jahrhundert und
Jahrhundert begegneten sich auf der Pilgerreise Menschen als Zeugen Christi, die sich zum
Evangelium bekannten und dabei zu verschiedenen Nationen entwickelten.
So rufe ich, Johannes Paul, Sohn der polnischen Nation, (…) dir, altes Europa, von Santiago aus
voller Liebe zu: Kehr um! Finde wieder zur dir selbst! Sei wieder du selbst! Besinne dich auf deinen
Ursprung! Belebe deine Wurzeln wieder! Baue deine geistige und freie Einheit wieder auf in einer
Atmosphäre der Achtung gegenüber anderen Religionen! Gib Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott,
was Gottes ist! (…) Noch immer kannst du Leuchtturm der Zivilisation und Anreiz zum Fortschritt
für die Welt sein. Die anderen Kontinente blicken auf dich und erhoffen von dir die Antwort des
Jakobus zu hören, die er Christus gab: “Ich kann es.“
Wenn Europa wieder eins wird bei Berücksichtigung all seiner Unterschiede, wenn Europa seine
Tore wieder Christus öffnet und keine Angst hat, die Grenzen der Staaten, der wirtschaftlichen und
politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner
rettenden Macht zu öffnen (…), dann wird seine Zukunft nicht von Unsicherheit und Furcht
beherrscht sein, sondern dann wird Europa sich einer neuen Epoche des Lebens öffnen zum Segen
für die ganze Welt – die doch immer noch und ständig von den Wolken des Krieges und einem
möglichen Orkan atomarer Massenvernichtung bedroht ist.
G. Waigand
Quelle: Vatican Magazin, Ausgabe 10/2010; Übersetzung L´Osservatore Romano, Paul Badde.
Das Bild zeigt eine Wegmarkierung in der Nähe von Vézelay
(Foto: G. Waigand)