Zuspruch zum Jakobustag 2019

Pilgern gestern und heute

Gedanken zum 25 Juli, Fest des Heiligen Jakobus

 

Der spanische Mediävist Manuel C. Diaz Y Diaz ging einmal der Frage nach, welche Spuren die Pilgerfahrt nach Kompostela in der europäischen Kultur hinterlassen hat.

In seinen Ausführungen bezieht er sich auf die  Predigtsammlungen „Adest nobis“ und „Veneranda dies“ aus dem Codex Calixtinus. Hier wird wird deutlich: Pilgern ist untrennbar mit Umkehr verbunden.

Jakobus ließ alles hinter sich, was ihm einst wichtig und bedeutsam erschien. Für den gläubigen Christen und Pilger, der seinem Beispiel folgen soll, bedeutet dies die Aufforderung zur radikalen Abkehr von der Sünde verbunden mit dem Tun guter Werke. Durch sein Martyrium gilt Jakobus als ein Gerechter. „Der Gerechte wird grünen wie eine Palme; er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon“, heißt es in Psalm 92. Die Übetragung seines Leichnams nach Santiago wird in den Texten gedeutet als Rettung des Gläubigen vor dem dämonischen Höllenschlund. Der Pilger soll also dem heroischen Beispiel des Heiligen folgen. Sich auf den Weg machen ist ein ganz wesentlicher Teil dieser Nachfolge, er ist dann nämlich auf dem „rechten Weg“. Nur der anspruchsvolle und schwierige Weg führt zum Ziel, denn er verlangt Entbehrung und Verzicht sowie Überwindung körperlicher Trägheit. Dies wiederrum ist die Voraussetzung für „inneren Fortschritt“, da nur so der Weg auch ein über das eigene Ich hinausführender Weg sein wird.

Der Pilger nach Santiago war ausgerüstet mit Beutel, Stock und Muschel, wie dieser in Déols dargestellte Jakobus zeigt. Der kleine, unscheinbare Beutel enthielt damals nur wenig Proviant, vielleicht Geld und ein Empfehlungsschreiben. Seine offene Form symbolisiert Bescheidenheit, Verzicht sowie die Bereitschaft, mit den Armen zu teilen. Der Stock war Stütze, galt als „drittes Bein“ und diente auch zur Abwehr von Hunden oder Wölfen. Als „dritte Stütze“ symbolisiert er den Glauben an die Dreifaltigkeit. Als Verteidigung gegen Hunde bedeutet er Abwehr „teuflischer Verführung“. Die Muschel galt als Beweis für die vollendete Pilgerfahrt. Ihre Form nach ist sie Symbol der Nächstenliebe, ihre Strahlen symbolisieren die zehn Finger der Hände, die gute Werke tun. In der auf die Kleidung des Pilgers genähten Muscheln sah man den unbedingten Willen des gläubigen Pilgers, ein von christlicher Erneuerung geprägtes Leben zu führen. Gleichzeitig war er damit auch Vorbild für seine Mitmenschen.

In dieser Sicht war und ist die Pilgerfahrt mehr als eine anspruchsvolle Wanderung. Es geht in der Tat um Umkehr und Verwandlung des Menschen, er soll den „neuen Menschen anziehen“, wie Paulus an die Epheser formuliert hat. Überwindung der Trägheit, tugendhaftes Leben, Großzügigkeit und Nächstenliebe im Geiste Christi sind die Merkmale dieses neuen Menschen.

Adest nobis“ erklärt den Zustrom der Pilger zum Apostelgrab mit dem Hinweis auf das Gleichnis vom Weizenkorn. Gemäß Joh 12,24 gilt Jakobus als Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt und somit reiche Frucht bringt. Diese Frucht sind die zahlreich nach Santiago strömenden Pilger. Sie ehren den Apostel durch die Früchte ihrer körperlich und mental anstrengenden Pilgerfahrt. Geläutert durch die Anstrengungen und Strapazen über Wochen und Monate hinweg, versammeln sie sich am Apostelgrab in Compostela. Damit wird dem Heiligen eine besondere Verehrung zuteil. Nicht zuletzt genießt er eine herausragende Stellung auch durch die Krone des Martyriums.

Der Weg nach Santiago ist in der Sicht dieser Predigtsammlung ohne Zweifel der Weg der Erneuerung durch Buße und Umkehr. Ziel ist die wahrhaftige Verwandlung des Pilgers in den neuen Menschen.

Der Weg nach Santiago ist für die Pilger der anspruchvollste aber auch aussichtsreichste Weg zum neuen Menschen und damit zum Heil. Heutige Pilger formulieren profaner: Man ist dem eigenen Leben auf der Spur, überschreitet Grenzen, findet Erleuchtung oder sogar sich selber, man ist auf der Suche nach dem Glück oder lässt die Seele baumeln usw, usw.

In den Texten des Codex Calixtinus wurde seinerzeit aber auch die gesellschaftliche Dimension der Pilgerfahrt sichtbar. Wer sich auf den Weg begab, musste seit eh und je Verzicht und allerlei Unanehmlichkeiten in Kauf nehmen. Alsdann aber mussten zusätzlich noch weitere Vorkehrungen getroffen werden: Schulden begleichen, sich mit Schuldnern einigen, Familienverhältnisse geordnet hinterlassen, Nachbarschaftsstreitigkeiten regeln; ferner musste der Pilger diejenigen um Vergebung bitten, die unter ihm gelitten hatten, überflüssigen Besitz unter die Armen verteilen. Er musste versprechen, nach der Rückkehr Großzügigkeit und Gerechtigkeit  walten zu lassen sowie sich zu mehr christlicher Nächstenliebe zu verpflichten. Auf diese Weise bedeutet der Weg nach Santiago auch ein wirksamer Weg zur Veränderung der christlichen Gesellschaft.

Mit dem Bezug zur Bibel und der bildhaften Deutung der Predigttexte zielt laut Diaz Y Diaz der Autor auf eine nachhaltige Veränderung der Menschen und mit auch der Gesellschaft, in der diese lebten. Dies freilich war ein langwieriges Unterfangen, was symbolisch im langen Pilgerweg seinen Widerhall findet.

Das ist die globale Bedeutung des Pilgerns: Hab und Gut, Familie und Heimat verlassen nach dem Vorbild des Apostels und anderer berühmter biblischer Pilger: Abraham, Jakob und das Volk Israel. Dieser Weg ist ohne Zweifel höchst anspruchsvoll, aber die Ankunft in Santiago und die glückliche Heimkehr erfüllen den Pilger mit Freude. Der zunächst als Wanderer aufgebrochene Mensch wird allmählich zum Pilger verwandelt, er wird Christ. Den „neuen Menschen anziehen“ ist in der Tat das Ziel des Jakobspilgers.

© Text und Foto G. Waigand

 

Quelle: „Les traces du pèlerinage à Saint-Jacques-de-Compostelle dans la culture européenne”

Les éditions du Conseil de l’Europe, 1992

 

Das Foto zeigt eine Jakobusfigur in der Église Saint-Étienne in Déols, auf dem Nordast der « via lemovicensis » gelegen