Bedeutung der Pilgerfahrt für die Europäische Kultur gestern und heute
Während eines Kolloqiums, veranstaltet im Jahre 1989 vom Europarat und vom Ital. Zentrum für Kompostellanische Studien, ging der spanische Medievist Manuel C. Diaz Y Diaz der Frage nach, welche Spuren die Pilgerfahrt nach Kompostela in der europäischen Kultur hinterlassen hat.
Diaz bezog sich in seinen Ausführungen auf die Predigtsammlungen „Adest nobis“ und „Veneranda dies“ des Codex Calixtinus aus dem 12. Jahrhundert.
Laut Diaz stand ganz deutlich die „Erneuerung des Menschen“ im Mittelpunkt des Pilgerweges. Welche Bedeutung hatten die bildhaften und theologischen Aussagen dieser Texte für die damalige Pilgerfahrt, fragt der Autor der Studie. Er fördert Gedanken zu Tage, die auch noch für den modernen Pilger durchus von Bedeutung sein können.
Jakobus wurde zum Apostel berufen, weshalb er alles hinter sich ließ, was ihm einst wichtig und bedeutsam erschien. Für den gläubigen Christen und Pilger, der seinem Beispiel folgen soll, bedeutet dies die Aufforderung zur radikalen Abkehr von der Sünde verbunden mit unablässigem Eifer für die guten Werke. Da Jakobus das Martyrium erlitt, gilt er als ein Gerechter. „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum; er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon“, heißt es in Psalm 92. Er hat also schon die ewige Glückseligkeit erreicht, den Sieg errungen. Die „translatio“ seines Leichnams nach Santiago wird in den Texten gedeutet als Rettung des Gläubigen vor dem dämonischen Höllenschlund. Der echte Pilger soll also dem heroischen Beispiel des Heiligen folgen. Sich auf den Weg machen ist ein ganz wesentlicher Teil dieser Nachfolge, er ist dann nämlich auf dem „rechten Weg“. Nur der anspruchsvolle und schwierige Weg führt zum Ziel, denn er verlangt permanente Überwindung körperlicher Trägheit sowie das Hinnehmen von Entbehrung und Verzicht. Dies wiederrum ist die Voraussetzung für „inneren Fortschritt“, da nur so der Weg auch ein über das eigene Ich hinausführender Weg sein wird.
Der Pilger nach Santiago war stets ausgerüstet mit Beutel, Stock und Muschel, wie ihn die hier abgebildete Skulptur aus einem der zahlreichen Souvenirläden zeigt. Die beiden ersten Utensilien wurden vor dem Aufbruch im Rahmen einer Liturgie gesegnet. Auch heute noch nehmen viele Pilger in Vézelay oder anderenorts an einer liturgischen Aussendungsfeier teil. Mit wissenschaftlich getesteter Outdoornahrung gut gefüllte und große Hightech-Rucksäcke oder ultraleichte Wanderstöcke aus Carbon gab es damals nicht. Der kleine, unscheinbare Beutel enthielt seinerzeit nur wenig Proviant, vielleicht Geld und ein Empfehlungsschreiben. Seine meist offene Form symbolisiert Bescheidenheit, Verzicht sowie die Bereitschaft, mit den Armen zu teilen. Der Stock war Stütze, galt als „drittes Bein“ und diente auch zur Abwehr von Hunden oder Wölfen. Als „dritte Stütze“ symbolisiert er den Glauben an die Dreifaltigkeit. Als Verteidigung gegen Hunde bedeutet er Abwehr „teuflischer Verführung“. Die Muschel galt als Beweis für die vollendete Pilgerfahrt. Ihre Form nach gilt sie als Symbol der Nächstenliebe, ihre Strahlen symbolisieren die zehn Finger der Hände, die gute Werke tun. In der auf die Kleidung des Pilgers genähten Muscheln sah man den unbedingten Willen des gläubigen Pilgers, ein von christlicher Erneuerung geprägtes Leben zu führen. Gleichzeitig war er damit auch Vorbild für seine Mitmenschen.
In dieser vertieften Sicht war und ist die Pilgerfahrt mehr als eine anspruchsvolle Outdoor-Wanderung, die, bisweilen auf Facebook reichhaltig bebildert, tausendfach geliked werden soll oder sogar erbaulich betitelt literarisch einmal einer möglichst breiten Öffentlichkeit kundgetan werden soll. Hier in diesen Texten geht es um Umkehr und die Verwandlung des Menschen, er soll den „neuen Menschen anziehen“, wie Paulus an die Epheser formuliert: „Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechter Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,23). Überwindung jeglicher Trägheit, tugendhaftes Leben, Großzügigkeit und Nächstenliebe im Geiste Christi sind die Merkmale dieses neuen Menschen.
„Adest nobis“ erklärt den Zustrom der Pilger zum Apostelgrab mit dem Hinweis auf das Gleichnis vom Weizenkorn. Gemäß Joh 12,24 gilt Jakobus als Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt und eben auf diese Weise reiche Frucht bringt. Diese Frucht sind die zahlreich nach Santiago strömenden Pilger. Sie huldigen dem Apostel, indem sie ihm die Früchte ihrer körperlich und mental anstrengenden Pilgerfahrt darbringen. Geläutert durch die Anstrengungen und Strapazen über Wochen und Monate hin, versammeln sie sich am Apostelgrab in Compostela, um sich nach seinem Vorbild künftig den guten Werken nach Kräften widmen zu können. Da die Pilger durch ihre in jeder Hinsicht anspruchvolle und anstrengende PIlgerfahrt Jakobus in besonderer Weise ehren und rühmen, ragt er über andere Heilige hinaus, gehörte er doch schon zu Lebzeiten zu einem der drei bevorzugten Apostel. Nicht zuletzt genießt er eine herausragende Stellung auch durch die Krone des Martyriums, die ihm zuteil wurde.
Der Weg nach Santiago ist in der Sicht dieser Predigtsammlung ohne Zweifel der Weg der Erneuerung durch Buße und Umkehr. Durch Jakobus erhält der Pilger Vergebung der Sünden und die Möglichkeit, sein Heil zu erlangen. Nicht zufällig konnten erschöpfte Pilger schon in Villafranca del Bierzo in der Iglesia de Santiago durch die „Puerta del Perdón“ (Pforte der Vergebung) schreiten. Im Mittelpunkt dieser Predigtsammlung steht also die wahrhaftige Verwandlung des Pilgers in den neuen Menschen.
So gesehen erscheint der Pilgerweg für die Menschen des 12. Jahrhunderts in einem neuen Licht: Der Weg nach Santiago ist der anspruchvollste aber auch aussichtsreichste Weg zu ihrer Verwandlung und damit zum Heil.
Allmählich aber wurde seinerzeit auch die gesellschaftliche Dimension der Pilgerfahrt sichtbar. Wer sich auf den Weg begab, musste seit eh und je Verzicht und allerlei Unanehmlichkeiten in Kauf nehmen. Alsdann aber mussten zusätzlich noch weitere Vorkehrungen getroffen werden: Schulden begleichen, sich mit Schuldnern einigen, Familienverhältnisse geordnet hinterlassen, Nachbarschaftsstreitigkeiten regeln; ferner musste der Pilger diejenigen um Vergebung bitten, die unter ihm gelitten hatten, überflüssigen Besitz unter die Armen verteilen. Er musste versprechen, nach der Rückkehr Großzügigkeit und Gerechtigkeit walten zu lassen sowie sich zu mehr christlicher Nächstenliebe zu verpflichten. Auf diese Weise bedeutet der Weg nach Santiago auch ein wirksamer Weg zur Veränderung der christlichen Gesellschaft.
Mit dem Bezug zur Bibel und deren bildhafter Sprache legten laut Diaz Y Diaz die Autoren dieser Texte Zeugnis ab von ihrer fundierten, theologischen Kenntnis, zielten aber gleichzeitig auf eine nachhaltige Veränderung der Menschen und mit auch der Gesellschaft, in der diese lebten. Dies freilich war ein langwieriges Unterfangen, was symbolisch im langen Pilgerweg seinen Widerhall findet.
Das ist die globale Bedeutung des Pilgerns: Hab und Gut, Familie und Heimat verlassen nach dem Vorbild des Apostels und anderer berühmter biblischer Pilger: Abraham, Jakob und das Volk Israel. Dieser Weg ist ohne Zweifel höchst anspruchsvoll, aber die Ankunft in Santiago und die glückliche Heimkehr erfüllen den Pilger mit Freude. Der einst aufgebrochene Wanderer wird allmählich zum Pilger verwandelt, er wird Christ. Den „neuen Menschen anziehen“ ist in der Tat das Ziel des Jakobspilgers.
© G. Waigand
Quelle: „Les traces du pèlerinage à Saint-Jacques-de-Compostelle dans la culture européenne” Les éditions du Conseil de l’Europe, 1992