Der Jakobsweg und seine Krisen durch ein Jahrtausend
Die Coronakrise in Europa hat zu zahlreichen Warnhinweisen auf den Internetportalen der Jakobusgesellschaften geführt. Frankreich steht de facto unter Quarantäne, in anderen Ländern ist die Lage ähnlich dramatisch. In Galizien sind alle Herbergen geschlossen ebenso das Pilgerbüro in Santiago. Das Pilgern ist so gut wie zum Erliegen gekommen. Ein Blick auf die Geschichte des Jakobsweges zeigt, dass sich zu allen Zeiten Krisen mit dem Aufblühen von Pilgerfahrten abwechselten.
Um das Jahr 820 soll in Galicien das Grab des heiligen Apostels Jakobus entdeckt worden sein, gefolgt von der sofortigen Einrichtung eines heiligen Ortes für die Verehrung der sterblichen Überreste des Heiligen.
Könige, Äbte, französische und deutsche Mönche sind die ersten Pilger, die ab dem ausklingenden 9. Jahrhundert nach Santiago aufbrachen.
Der Aufschwung des 11. Bis 13. Jahrhunderts wurde ganz wesentlich begünstigt von den damaligen Königshäusern, durch Papst Calixtus II., und besonders getragen durch das Kloster Cluny und durch die Zisterzienser. Auf diese Weise schrieb der Jakobsweg seine tausendjährige Geschichte.
Es war das goldene Zeitalter der Pilgerfahrten. Die Pilger kamen aus ganz Europa, sogar aus Island und natürlich aus ganz Hispania zu Fuß, mit dem Pferd oder dem Schiff. Sie wurden hauptsächlich untergebracht in einem Herbergsnetz, das unter Schirmherrschaft von Königen, Adligen und Bürgern der Städte stand. Auch in der Betreuung der Pilger spielten die Mönchen aus dem Orden von Cluny eine herausragende Rolle.
In mittelalterlicher Sicht war ein Pilger ein von Gott Gesandter. Deshalb musste er so respektiert und behandelt werden, als wäre er Jesus Christus selbst. Es war daher nicht unüblich, in verschiedenen Szenen den auferstandenen Jesus unter den Jüngern in Emmaus als Retter in Pilgerkleidung mit den typischen Pilgersymbolen darzustellen, Beutel, Stab und Muschel. Die bekannteste dieser Darstellungen befindet sich auf einem Relief des Klosters Santo Domingo de Silos.
Allerdings war der Jakobsweg stets der Bedrohung durch Krisen ausgesetzt. Die Darstellung im Tympanon von Conques ist Ausdruck dieser Bedrohung. Trotz des Hundertjährigen Krieges (1337-1453), der Pest (1348) und lang anhaltender Hungersnöte, überdauerte der Jakobsweg das harte 14. Jahrhundert.
Vor diesem Hintergrund traten Bauern, Bürger, Soldaten, Edelleute und Ordensbrüder – vor allem in Zeiten der Waffenruhe – eine Pilgerschaft an im Bewusstsein, dass der Sternenweg als ein Weg für die Seelen ins Paradies zu verstehen ist.
Gegen Ende des 14. Jahrhunderts entwickelte sich auf Grund der Krisensituation, unter der Frankreich, Flandern, England und andere Länder litten, in Galicien ein internationaler, eng mit den Pilgerfahrten verbundener Handel auf dem Seeweg. So landeten im Hafen von La Coruña zahlreiche Schiffe mit Pilgern aus Flandern, der Bretagne, England und den Balkanländern sowie Waren aus den Niederlanden, Andalusien, Katalonien, Genua und Venedig an. Im Gegenzug wurde Räucherfisch übers Mittelmeer und Ribeiro-Wein in die Regionen an der Atlantikküste Europas exportiert.
Im 16. Jahrhundert geriet der Jakobsweg erneut in eine tiefe Krise und kam fast zum Erliegen. Zunächst übte die von Erasmus von Rotterdam über Pilgerfahrten geäußerte ironische Kritik einen negativen Einfluss aus. Die Kritik wurde noch durch Martin Luther verstärkt. Reformation und Religionskriege auf deutschem Boden und in Frankreich verschärften diese Krise. Die Spanische Inquisition erschwerte das Pilgern zusätzlich, da sie Ausländer sowie Jakobspilger unter Generalverdacht stellte. Wer wollte schon in die Fänge der Inquisition geraten.
Durch die Gegenreformation kam es im 17. Jahrhundert mit der Religiosität des Barocks zu einer Wiederbelebung des Jakobswegs, ehe es auf Grund der französischen Revolution 1789 und des Krieges zwischen mehreren europäischen Mächten und Frankreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts erneut zu einem drastischen Rückgang der Pilgerzahlen kam.
Im 20. Jahrhundert sorgten der Spanische Bürgerkrieg und zwei Weltkriege für einen erneuten Rückgang der Pilgerzahlen.
Mit den 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts setzte ein Pilgerboom nach Santiago ein, der bis 2020 jährlich neue Rekorde brach. Auslöser und Hintergrund war zunächst die Idee eines geeinten Europa. Kluge Köpfe des Europarates erkannten in den zahlreichen Pilgerwegen durch Europa nach Nordspanien ein einigendes Band aller europäischer Länder. Die Ausstellung „Santiago de Compostela, 1000 Jahre europäische Pilgerfahrt“ zählte in Gent 1985 weit über 100.000 Besucher.
Globalisierung, die Terroranschläge von 2001, die sich verschärfende Umweltkrise und die Wirtschaftskrise von 2008 führten zu einem neuen Denkprozess, ja zu einer Infragestellung vieler zur Gewohnheit gewordenen Wertvorstellungen und der damit einhergehenden Lebensweise. Seit kurzem stehen wir mit der rasanten Ausbreitung des Coronavirus vor einer der größten globalen Krisen der Menschheit, die in diesem Jahr den Pilgerstrom vermutlich vollständig zum Erliegen bringen wird. Die meisten Herbergen sind bereits geschlossen.
In Anbetracht dieser Verunsicherungen und auf der Suche nach neuen Sinnzusammenhängen beschwört die Pilgerreise nach Santiago radikale Verhaltensänderungen, wie sie bereits in den Predigtsammlungen „Adest nobis“ und „Veneranda dies“ des Codex Calixtinus vor mehr als 1000 Jahren gefordert wurden.
Der Weg nach Santiago ist in der Sicht dieser Predigtsammlung ohne Zweifel der Weg der Erneuerung durch Buße und ganz besonders durch Umkehr, wie sie mittlerweile auch in den Demonstrationen „Friday for Future“ regelmäßig vorgetragen werden. Ziel ist die wahrhaftige Verwandlung des Pilgers in den neuen Menschen.
Mit dem Bezug zur Bibel und deren Deutung durch die zitierten Predigttexte zielt der Autor des Codex Calixtinus auf eine nachhaltige Veränderung der Menschen und damit auch der Gesellschaft, in der diese leben. Dies freilich war schon immer ein langwieriges Unterfangen, was symbolisch im langen Pilgerweg seinen Widerhall findet.
Das ist die globale Bedeutung des Pilgerns: Hab und Gut, Familie und Heimat verlassen, Verzicht auf gewohnte Verhaltensmuster nach dem Vorbild des Apostels und anderer berühmter biblischer Pilger: Abraham, Jakob und das Volk Israel. Dieser Weg, momentan jäh unterbrochen durch Covid-19, ist ohne Zweifel höchst anspruchsvoll, aber die Ankunft in Santiago und die glückliche Heimkehr erfüllen den Pilger mit Freude. Der zunächst als Wanderer aufgebrochene Mensch wird allmählich zum Pilger verwandelt, er wird Christ. Den „neuen Menschen anziehen“ ist in der Tat das Ziel des Jakobspilgers. Ist die gegenwärtige Krise erst einmal überwunden, wird der Jakobsweg erneut seine Strahlkraft entfalten und Menschen aller Kontinente werden sich diesem Ziel erneut zuwenden.
© G. Waigand
Benutzte Quellen: https://www.caminodesantiago.gal/es/
„Les traces du pèlerinage à Saint-Jacques-de-Compostelle dans la culture européenne” Les éditions du Conseil de l’Europe, 1992
Jean Chelini : Histoire religieuse de l’occident médiéval (Collection U)