„Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit….“(Rainer Maria Rilke)
Die Attraktivität des Jakobswegs ist nach wie vor ungebrochen. Viele trugen sich mit dem Gedanken,in diesem Jahr aufzubrechen. Der Einbruch von Covid-19 hat dieser Absicht ein jähes Ende bereitet,so gut wie alle Pilgerherbergen in Europa sind mittlerweile geschlossen, von den Ausgangs-beschränkungen ganz zu schweigen. Wir müssen auf viele Dinge verzichten. So sind unsere Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt.Wir sehnen uns danach, Verwandte oder Freunde zu besuchen, müssen das aber auf später verschieben.
Rilke als Dichter der Sehnsucht hat wie kaum ein anderer unseren verborgenen Wünschen Ausdruckverliehen. Mit „Gewoge“ versprachlicht der Dichter den Stress, unter dem wir mehr oder weniger auch schon vor der Coronakrise zu leiden hatten. Man hatte mitunter das Gefühl, von einer Welle,die Rilke als „Woge“ beschreibt, davon getragen zu werden. So setzt derzeit die Coronakrise uns allenenorm zu. Wegbrechende Aufträge führen zu Kurzarbeit und Angst vor Arbeitsplatzverlust. Es scheintfür manche Betriebe um die nackte Existenz zu gehen. Viele werden nervös, fangen vor lauter Angstan zu hamstern. Wo ist Land in Sicht, wo finde ich festen Halt unter den Füßen? Wann endlich trittwieder Normalität ein? Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit macht sich teilweise breit. Wie langedauert diese Krise noch und was kommt danach? Mit „Gewoge“ trifft Rilke diesen Vorgang sehr genau. Ein Weile kann man das aushalten, dannkommt man ins Strudeln.Doch setzt diese Katastrophe auch eine enorme, fast grenzenlose Phantasie frei. Menschen machensich Mut, indem sie zum Beispiel gemeinsam vom Balkon singen oder klatschen. Musiker spielen vonzu Hause aus in einem virtuellen Orchester für ihre Mitmenschen. Moderne Technologie macht’smöglich. Schulen sind zwar geschlossen, aber mittlerweile erteilen Lehrer Unterricht in einemvirtuellen Klassenzimmer. Das sind nur einige der zahlreichen Aktionen, die Mut machen.Doch wie geht es dem Pilger? Kann man virtuell pilgern? Ohne Zweifel gibt es zahllose sehr gut dokumentierte Berichte über Pilgertouren durch Frankreich oder Spanien bis zum Apostelgrab. Den eigenen schon seit Monaten geplanten Weg können und wollen sie auch nicht ersetzen. Dochaufgeschoben ist nicht aufgehoben. Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als den Weg auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Zeit, das genau ist jetzt das entscheidende Stichwort. Ich muss wohl oder übel jetzt auf den Aufbruch verzichten. Das aber eröffnet mir eine neue Perspektive. Ich habe auf einmal mehr Zeit, mich auf diegeplante Pilgerreise vorzubereiten.Zeit. Du hast und nimmst dir Zeit. Du lebst jetzt viel langsamer als sonst, in einem anderen Rhythmus.- Wie gefällt dir die Langsamkeit?- Wie verändern sich deine Wahrnehmung, dein Denken und Handeln?- Ist die Zeit dein Freund oder dein Feind?- Hast du manchmal das Gefühl, die Zeit totschlagen zu sollen? – Wie machst du das?- Lebst du im Jetzt, oder mehr in der Vergangenheit oder in der Zukunft?Jeder Tag ist ein eigenes Geschenk. Mach etwas Schönes daraus. Schwebe auf den sich bietendenWogen. Überlass die Zeit der Zeit.Der Mensch im Alten Testament begreift seine Zeit als von Gott geschenkte Zeit: „Alle Zeiten meinesLebens sind in deiner Hand“. (Psalm 31,16). Deshalb kann er auch unterschiedliche Lebensphasenund Situationen aus Gottes Hand annehmen. Ein zentraler Text dazu findet sich in der Bibel im Buch Kohelet:„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eineZeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zumAbernten der Pflanzen,…eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für dieKlage / und eine Zeit für den Tanz;“ (Kohelet 3,1-2,4)Es ist hilfreich und gut, zu wissen, dass unterschiedliche Lebenssituationen unterschiedlicheHerausforderungen und Chancen haben. Die unterschiedlichen Situationen gelassen anzunehmen,gelingt leichter, wenn man sein Leben in einem größeren Kontext sieht und weiß: Das Leben istgrößer als die Summe meiner Tage, denn Gott hält nicht nur mein Leben in seiner Hand mit all seinenErfolgen, Problemen und Rückschlägen, sondern auch die ganze Welt. Und er hat mit dieser Welteinen Plan, er führt sie einem guten Ziel zu, mag der Weg mitunter auch holprig sein. Die Bibel ist vollvon Beschreibungen darüber, wie eine Zukunft in Gottes Gegenwart aussieht. Dabei werdenMenschen, die miteinander in Gottes Gegenwart leben, ihn feiern und eine neue Erde und einenneuen Himmel gestalten trotz und vielleicht wegen Coronakrise. Auf Karfreitag folgt Ostern.
© G. Waigand