Steh auf und geh!
So könnte man die Schlagzeile zu dieser Miniatur formulieren. Der Mönch Guillaume
de Diguelleville beschreibt im XIV. Jahrh. in “Le Pèlerinage de Vie humnaine” die
Aufforderung zum Aufbruch nach Santiago.
Ein Engel überbringt einem am Weg eingeschlafenen Pilger den Pilgerstab. So
leitet der himmlische Bote einen neuen Lebensabschnitt im Leben dieses ermatteten,
vielleicht sogar mutlosen Menschen ein. In
dem Augenblick, als Stillstand oder gar Hoffnungslosigkeit sich auszubreiten drohten, wird dieser
Pilger aufgefordert, sich auf den Weg zu machen. In Joh 5,8 sagt Christus zu dem Kranken am Teich
Bethesda “Steh auf und geh”.
Im Film klingelt oft der Wecker, ein Brief flattert herein oder es ereignet sich ein dramatisches
Ereignis. Der Held erwacht. Das ist die Aufforderung, sich von allem bisher Vertrauten zu lösen und
endlich aktiv zu werden.
Oftmals ist ein besonderes Ereignis (‘Krise‘) Auslöser einer Pilgerreise: Verlust einer nahestehenden
Person oder des Arbeitsplatzes, eine schwere Krankheit, Beginn einer neuen Phase im Leben (z.B.
Übergang vom Studium zur Arbeitswelt, Eintritt in den Ruhestand). Es kann auch eine Aufforderung
aus deinem Innersten sein. Eine Stimme sagt dir, es ist Zeit, dich auf den Weg zu machen im realen
und übertragenen Sinne. Dir stellen sich vielleicht wichtige Fragen: Ist das wirklich das Leben, das ich
führen möchte?
Mitunter ist die Versuchung groß, derartige Fragen zu ignorieren und sich in Aktivitäten zu stürzen.
Aber der Aufruf hat eine magische Kraft: Handelt es sich tatsächlich um wichtige Fragen, geben sie
keine Ruhe und werden immer wieder an die Oberfläche drängen.
“Oftmals treffen wir Entscheidungen im Leben, hinter denen wir nicht wirklich stehen. Daraus
ergeben sich Situationen, in denen wir uns nicht wieder erkennen bis zu dem Tag, an dem wir
aufwachen. Man packt alles zusammen, was wichtig ist und bricht zu sich selber auf. Das ist der
Augenblick, in dem es ernst wird.”
Zahlreiche Führer und Webseiten bieten praktische Informationen, alle Wege nach Santiago sind
bestens markiert, selbst ohne Karten oder Navi kann man das Ziel eigentlich nicht verfehlen. Der Weg
des Lebens allerdings ähnelt eher einem Labyrinth. Unsere Wirklichkeit ist dem stetigen Wandel
unterworfen. Die Gesellschaft wird immer komplexer und die uns vertrauten Beziehungen geraten
unter Druck. In diesem dynamischen Geschehen können und müssen wir unseren Weg finden.
Für viele von uns ist daher auf Pilgerreise gehen zu können von unschätzbarem Wert. Nur
mitnehmen, was nötig ist, der Rhythmus der Reise, die Natur, Unsicherheiten, Einsamkeit,
Begegnungen, dauernd entscheiden müssen – weit weg von allem, was uns vertraut ist. Das sind die
wunderbaren Zutaten für eine unvergessliche Erfahrung. So wird die Reise zu einem Erlebnis, zeigt
uns Werte, die für uns unverzichtbar sind (was uns ‘heilig‘ ist).
Drum: „Steh auf und geh“
© G. Waigand
Bild: La restitution du bourdon au pèlerin endormi dans « Le Pèlerinage de Vie humaine ». Miniature,
Bibliothèque de Sainte Geneviève, Paris, ms. 1130, XIVe siècle
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