Die mystische Mühle (Vézelay)
Christlische Verkündigung legte schon immer großen Wert auf ikonographischen Darstellungen. Die kraftvolle und mitunter drastische Botschaft der Tympana und mancher Kapitelle romanischer Kirchen erschöpft sich jedoch nicht allein im Sichtbaren, sondern sucht die Aufmerksamkeit des Betrachters auch auf die hintergründige Botschaft zu lenken, die sich dem Betrachter erst allmählich erschließt.
Als Beispiel für den verborgenen Inhalt einer Darstellung kann das Kapitell der „Mystischen Mühle“ in der Basilika in Vézelay gelten.
Fachleute sind sich einig und erkennen in der linken Figur, die das Korn einfüllt, Mose, und in der rechten Figur Paulus, den Völkerapostel.
Da wir Pfingsten feiern, konzentriere ich mich in diesem Zuspruch auf nur ein Merkmal der auffälligen Kleidung der Repräsentanten des Alten und Neuen Bundes: Der unübersehbare Faltenwurf, der zunächst wie ein modisches Accessoir wirkt. Er lockert das Erscheinungsbild beider Akteure auf, lässt sie sehr lebendig und dynamisch erscheinen, ganz als ob der Wind in die Kleidung führe und sie aufblähte.
Dieser Wind hat Symbolkraft, heißt in der hebräischen Bibel „Ruach“ (רוּחַ) und bedeutet Wind und Geist gleichermaßen. Man kann ihn weder sehen noch mit den Händen greifen. Festhalten schon grad gar nicht. Genau dieses nicht-verfügbar-sein macht den „Heiligen Geist“ aus. Die Ruach ist alles andere als harmlos, sondern kann alles ziemlich heftig durcheinander wirbeln. In der berühmten Geschichte, in der die Israeliten mitten durchs Rote Meer ziehen, ist es die Ruach, die das Wasser in Bewegung versetzt.
Der Geist Gottes ist wie ein Orkan, den man nicht bändigen kann. Die einen zerreisst die Ruach, andere erfüllt sie mit Power. Wichtig ist, dass „Ruach“ nicht der Atem oder der Wind selbst ist, sondern immer die Energie, die darin steckt. Sie steht für die Kraft, die im Wind spürbar ist. Es geht immer um Bewegung. Die Ruach ist selbst bewegt und setzt andere und anderes in Bewegung: Niemals ist Gottes Geist starr oder unbeweglich.
Der Wind ist die Möglichkeit, wo Gottes Energie ganz konkret erfahrbar wird… wenn unterwegs der Wind durchs Haar fährt, wenn die Kornfelder im Wind hin- und herwogen, die Bäume rauschen … Dann werden Gottes Kraft in der Welt und seine Lebendigkeit spürbar.
Und wenn’s im Leben einen so richtig zerzaust, wenn man „stürmische Zeiten“ durchmacht, kann der Blick auf die „Ruach“ vielleicht helfen, nicht alles gleich schwarz zu sehen, sondern als Chance, die Neues hervorbringt. „Ruach“ erinnert daran, dass Gott und damit das Leben absolut unberechenbar sind.
Pfingsten ist das Fest des Heiligen Geistes. Dabei wird die Erzählung vorgelesen, wie die Freunde Jesu den Geist Gottes geschenkt bekommen: Sie hatten sich aus Angst in einem Haus eingeschlossen: „Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. (Apg 2,2-3)
Die im Saal Versammelten bekamen eine ungeheure Kraft und Mut; den Mut, den es durchaus braucht, um von zu Hause aufzubrechen und auf dem Pilgerweg aus sich herauszugehen.
„Wenn du (Gott) den Lebenshauch (ruach) zurücknimmst, schwinden sie hin, werden zu Staub. Sendest du deinen Geist (ruach), so entsteht wieder Leben. Du erneuerst das Gesicht der Erde“ (Psalm 104).
© Bild und Text G. Waigand