Wunder gibt es immer wieder
Der Codex Calixtinus berichtet in seinem 2. Buch von 22 Wundern des Heiligen Jakobus auf dem Camino. Wer hat nicht schon vom Hühnerwunder in Santo Domingo de la Calzada gehört. Alle Pilger berichten tief beeindruckt von gackernden und krähenden Hühnern mitten in der Kirche. Die Erzählung dieses Wunders hatte in ganz Europa einen solch starken Eindruck hinterlassen, dass es in zahlreichen Kirchen seinen künstlerischen Widerhall fand. Heute findet sich dieses Motiv tausendfach auf einem schier unverzichtbaren Begleiter, dem Handy der Pilger.
Doch gibt es auf einem von Navis bestens überwachten Weg überhaupt noch Raum für Überraschendes oder Außergewöhnliches? Ja, es gibt noch Wunder auf dem Weg. Trotz „Transzendenz ausgrenzender Rationalität“ (Charles Taylor) gelingt es immer wieder, die Grenzen des „abgeschotteten Ich“ zu sprengen.
Die Geschichte einer jungen Pilgerin aus Leipzig illustriert ein solches Wunder. Voller Elan stieg Nathalie in die Bahn, die sie über Frankfurt, Paris und Sermizelles nach Vézelay zum Ausgangspunkt ihrer Pilgerreise bringen sollte. Doch gleich zu Beginn türmten sich Hindernisse auf. Verspätungen, Zugausfälle und ungeplante Übernachtungen auf Bahnhöfen führten geradewegs in einen chaotischen Aufbruch. So hatte sie das gar nicht in den einschlägigen Pilgerführern gelesen. Da war die Rede von der Verwirklichung eines Traumes, einem Schmetterling gleich fliege man davon, jeder Pilger mache sich auf den Weg im Bewusstsein, dass Jakobus schützend seine Hand ausbreite. Sie hatte gelesen vom Unterwegssein auf ruhigen Pfaden, von spannenden Begegnungen voller Verbundenheit, Schutz und Geborgenheit. Und dann dieses Chaos. Auf welchem Weg waren die Autoren dieser Führer unterwegs gewesen, fragte sie sich. Dennoch ging sie den Weg weiter, obwohl der Wald vor ihr immer dunkler erscheint, wie wird das noch enden? „Es ist der Mut, den Weg zu gehen, der ihn zum Vorschein bringt“ (Paolo Coehlo). Doch damit nicht genug. Endlich angekommen in Vézelay, dem Ausgangspunkt ihrer Pilgertour, war der Tiefpunkt nun erreicht. Da sie kein Französisch konnte, verstand sie niemanden und niemand verstand sie. Wie sollte sie ein Quartier für die Nacht finden? Das Ende ihrer Pilgertour schien unmittelbar bevorzustehen
Doch am scheinbar tiefsten Punkt angelangt, bahnte sich die Wende an. Drei Pilgerinnen aus Kanada fanden sie in Tränen aufgelöst unmittelbar vor dem Pilgerbüro in Vézelay. Die drei Kanadierinnen sahen die oben abgebildete Silhouette und waren sofort davon überzeugt, Nathalie sei genau hier an der richtigen Adresse. Und in der Tat, Nathalies Gesicht heiterte sich auf, als sie endlich in der Muttersprache ihre ganze Story erzählen konnte. Wir sprechen lang und ausführlich über ihre Erlebnisse. Von Aufgabe und Rückkehr nach Hause war dann irgendwann keine Rede mehr. Allmählich wächst bei ihr die Erkenntnis, dass der Weg auch eine Herausforderung ist, Mut verlangt, sich auf Unbekanntes einzulassen. Es gibt immer eine Lösung, wie scheinbar ausweglos die Situation auch sein mag. Doch wo sollte sie nun die Nacht verbringen in Vézelay? Ich telefonierte kurz mit Marcel, dem ehrenamtlichen Pilgerbetreuer im „Centre Madeleine“, erkläre ihm die Situation. Ich gehe mit Nathalie zwei Häuser weiter in die historische Herberge der Diözese Sens-Auxerre in unmittelbarer Nähe zur Basilika, die der Heiligem Maria Magdalena geweiht ist. Marcel aus Strasbourg begrüßte Nathalie auf Deutsch mit herzlichen Worten und sofort hellte sich ihre Miene noch weiter auf. Er wies ihr ein extra schönes Einzelzimmer zu, damit sie ausgeruht und gut erholt von den Strapazen der aufregenden Anreise am darauffolgenden Tag nach dem Pilgersegen endlich zur lang ersehnten Pilgertour aufbrechen konnte. Mit strahlendem Gesicht zeigte sie mir später ihren Pilgerausweis, versehen mit dem Stempel des Centre Madeleine und nun auch mit dem Stempel der Jakobusgesellschaft von Vézelay.
Was ist nun das Wunderbare an dieser alltäglichen Geschichte? Menschen, die sich vorher nie gesehen haben, treffen aufeinander und dieses nicht organisierte und ungeplante Miteinander verwandelt ganz unerwartet Verzweiflung in Hoffnung und Zuversicht. Reiner Zufall oder wunderbare Fügung? Auf dem Weg gibt’s nicht nur Gefahren, man wird auch Verbündete treffen. „Folge deiner Leidenschaft und das Universum öffnet Türen, wo vorher nur Mauern waren.“ (Joseph Cmapell)
Ó G. Waigand